Blick auf das neue Rathaus in Künzelsau.

Langfristig denken, Qualität liefern und möglichst viel gut machen

Digitaler Neujahrsempfang Künzelsau - gelungener Start ins Jahr 2021: Themen Wohnen und Klima im Fokus / Impuls für Kreislaufwirtschaft „Cradle to Cradle“ (von der Wiege zur Wiege)

Die sechs Podiumsgäste vom Neujahrsempfang auf der Bühne.
Von links: Harald Braun, erster Vorsitzender des kaufmännischen Vereins Künzelsau und Vorstand der Volksbank Hohenlohe; Professor Dr. Michael Braungart, Leuphana Universität Lüneburg; BRAUNGART EPEA – Internationale Umweltforschung, Hamburg; Bürgermeister Stefan Neumann; Christine Tritschler, Architektin und Stadtplanerin Büro ORplan aus Stuttgart; Anja Wanck, Schülerin am Schlossgymnasium Künzelsau und Mitglied bei Hohenlohe 4 Future. Foto Stadtverwaltung Künzelsau

Nicht im gewohnten Rahmen im Rathaus mit vielen Gästen, sondern digital aus der Stadthalle - und ganz ohne Besucherinnen und Besucher - hat der Künzelsauer Neujahrsempfang am Freitag, 29. Januar 2021 stattgefunden. Neu war das Format der Veranstaltung und interessant, was zu den Themen Wohnen und Klima gesprochen und via Live-Stream auf dem YouTube-Kanal der Stadt zu verfolgen war. Das Format scheint in der Spitze mit rund 200 Teilnehmern während des Live-Streams angekommen zu sein. In der Zwischenzeit wurde das Video mehr als 1.800 Mal aufgerufen.

Der Gemeinderat hat in dem Strategiepapier 2030 fünf Schwerpunktthemen festgelegt: Zukunft Gesundheit, Klima, Infrastruktur, Wohnen, Digitalisierung und Mobilität, so Bürgermeister Stefan Neumann bei der Begrüßung. Der Schwerpunkt liegt im Jahr 2021 auf Wohnen. Ziel ist es, bis zum Jahr 2030 bezahlbaren Wohnraum für alle anbieten zu können. „Gleichzeitig darf Klimaschutz nicht aufgeschoben werden. Das klare Ziel lautet: Künzelsau ist 2030 klimaneutral. Dies bedeutet, dass CO2-Emissionen, soweit es geht, reduziert und sinnvolle Alternativen etabliert werden sollen.“

Für weniger Zerstören sind wir aber zu viele

Professor Dr. Michael Braungart gibt bei seinem Einstiegsvortrag interessante Impulse und stellt sein Konzept „Cradle to Cradle“ (von der Wiege zur Wiege) vor. Der frühere Chef vom SWR Fernsehen Baden-Württemberg Hans-Peter Archner moderiert die Podiumsdiskussion im Anschluss. Beide haben Wurzeln in Künzelsau und Hohenlohe und damit steigt der Chemiker Professsor Dr. Michael Braungart, der einen Teil seiner Kindheit hier verbracht hat, in seinen Vortrag ein: „Ich freue mich hier zurück zu sein, wo es ganz viele Leute gibt, die Beispielhaftes in der Welt leisten. Zu den besinnlichen Gedanken, die ich Ihnen vorstellen will, gehören auch ein paar kritische Anmerkungen.“ Dabei steht für ihn nicht im Vordergrund, es besser wissen zu wollen. „Ich will Sie eher inspirieren, vielleicht Dinge anders zu sehen.“ Und er fordert mit Fragen dazu auf: „Warum will ausgerechnet Künzelsau klimaneutral sein? Wir können doch auch klimapositiv sein.“ Es gehe nicht einfach um Vermeiden, Sparen, Verzichten, Reduzieren, sondern vor allem auch darum, langfristig zu denken, insgesamt Qualität zu liefern und nicht nur die Dinge etwas weniger schlecht zu machen. Die Umwelt schützen bedeute, nicht weniger kaputt zu machen, weniger Müll zu produzieren und weniger Energie zu verbrauchen. „Damit schütze ich doch gar nicht, ich zerstöre doch nur weniger. Für weniger Zerstören sind wir aber zu viele.“

Wie wäre es, den Umgang mit Natur und Boden anders zu denken, „nicht weniger schlecht, sondern nützlich zu sein“? Gesund bauen ist wichtig und ein Ansatz dafür, so Professor Dr. Braungart. Mit seinem Team untersuchte er Gebäude und stellte dabei drei bis acht Mal schlechtere Luft als draußen im Freien fest. Wenn dann solche Gebäude versiegelt und gasdicht gemacht werden, sei dies das Falsche. Sinnvoll sei es zwar, eine andere Landwirtschaft zu betreiben, die den Boden erhalte, aber auch Gebäudefassaden müssten genutzt werden. Auf einem Hektar Fassade könne beispielsweise so viel Eiweiß wie auf 80 Hektar Mais produziert werden.

Kein Abfall - alles soll nützlich und Nährstoff sein

„Cradle to Cradle ist ein einfaches Konzept: es gibt einfach den Abfall auf. Die Menschen sind die einzigen Wesen, die Abfall machen.“ Es gehe nicht um weniger Müll oder null Abfall, sondern darum, dass alles nützlich, alles Nährstoff ist. Alles was verschleißt, Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen, muss so gemacht werden, dass es in das biologische System zurückgehen kann. Alle Dinge, die nur benutzt werden, wie Waschmaschinen oder Klimatechnik, müssen so gestaltet werden, dass sie zu technischem Nährstoff werden. „Es gibt also keinen Abfall, nur Nährstoffe für die Biosphäre und die Technosphäre. Produkte müssen so gestaltet werden, dass sie nützlich, nicht schädlich sind und so die Ressourcen erhalten bleiben.“ Auch die Wirtschaft sieht er hier gefordert.

Prof. Braungart bei seinem Vortrag auf der Bühne der Stadthalle Künzelsau.
Einstiegsvortrag von Professor Dr. Michael Braungart. Foto Stadtverwaltung Künzelsau.

Man kann Dinge doch anders machen

Kompostierbare Druckerzeugnisse, Mund- und Nasen-Masken oder Isoliermaterial für Häuser, nennt er unter anderen als Beispiele, wie in der Praxis Nährstoffe in einem Kreislauf zurückfließen können. Weltweit seien schon über eineinhalb Milliarden Masken aus Polypropylen in den Weltmeeren gelandet. Mit Studierenden habe er perfekt kompostierbare Masken entwickelt. „Wenn die verloren gehen, ist das kein Problem. Also, man kann die Dinge doch anders machen.“

Wie Nachhaltigkeit definiert und verstanden wird, findet Professor Dr. Braungart traurig: „Die Bedürfnisse der jetzigen Generation zu erfüllen und der folgenden nicht zu schaden. Das ist nicht ausreichend. Es ist vielleicht gerade das Minimum und nicht wirklich, was uns hilft. Lassen Sie uns doch positiv überlegen, wo wir sein wollen.“ Sein Appell: Möglichst viel gut und nicht möglichst wenig schädlich sein, sowie einen positiven Input für die Gesellschaft liefern. „Was mich umtreibt ist, dass es vielleicht zu langsam geht.“

Auf dem Podium: Kreislaufwirtschaft

Hans-Peter Archner geht mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Podiumsdiskussion in einen Austausch und lässt per E-Mail oder im Chat eingegangene Fragen mit einfließen. Christine Tritschler entwirft als Architektin und Stadtplanerin den Künzelsauer Stadteingang neu und erarbeitet Varianten für den Neubau des Kreishauses. Die im Vortrag angesprochene Kreislaufwirtschaft findet sie im Areal zwischen Landratsamt und Kaufland, entlang der Stuttgarter Straße, wieder: „Flächen wie der Schotterparkplatz warten darauf, dass dort eine Innovation beginnt. Das sind Flächen, die wir heute schon haben, aber auch deutlich besser nutzen können, um daraus wieder neue Dinge zu entwickeln.“

Für Anja Wanck, Schülerin am Schlossgymnasium Künzelsau, ist die Plastik-Problematik eine Herzensangelegenheit. Als Mitglied bei Hohenlohe 4 Future beschäftigt sie sich mit den Themen Energie und mit Mobilität. Letzteres sei in der ländlichen Struktur sehr wichtig, aber auch schwierig.

Dass Professor Dr. Braungart nicht darauf abzielt, wie man ein Problem noch weiter optimieren kann, sondern wie man das Problem an der Wurzel lösen kann, begrüßt Harald Braun. Er ist erster Vorsitzender des kaufmännischen Vereins Künzelsau und Vorstand der Volksbank Hohenlohe. „Mit der Zielsetzung der Agenda ‚Künzelsau 2030‘ gibt es da viele Ansatzpunkte. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir die Zeit nicht unbedingt haben, aber dennoch nicht in Panik ausbrechen, sondern mittel- und langfristig denken.“

Die andere Sichtweise und die positive Motivation, die in der Fragestellung „was können wir machen, damit wir nützlicher sind?“ liegen, gefällt Bürgermeister Stefan Neumann. Professor Dr. Braungart habe viele Anknüpfpunkte genannt. Die Diskussion darüber, wann ein Baugebiet klimaneutral ist, sei in Künzelsau noch nicht abgeschlossen. Wenn jetzt der Bogen weiter gespannt werde, dass die neu entstehenden Baugebiete in Amrichshausen, Belsenberg und Gaisbach klimapositiv sein sollen, zwinge das zum Nachdenken. „Wenn wir auf die Artenvielfalt schauen, müsste das Gebiet also einen positiveren Beitrag leisten als vorher.“ Die Stadt werde klären müssen, welche Vorgaben an die neuen Bauherren gerichtet werden sollen und, was künftig an Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden müsse. Weiter werden angesprochen die Nachnutzung und Umwandlung des Gärtnereiareals in Mäusdorf zu einem Wohnbaugebiet, die Mobilität und die aktuell guten Chancen für den Bau einer Stadtbahntrasse bis Künzelsau und der Neubau des Kreishauses.

Die Wirtschaft, so Harald Braun, kann insgesamt einen großen Beitrag leisten und hat Interesse, dass der Standort Künzelsau attraktiv bleibt.

Auf die Frage zu Photovoltaikanlagen auf städtischen Gebäuden, die via E-Mail eingegangen ist, berichtet Bürgermeister Stefan Neumann über die Aktivitäten im Rahmen des European Energy Award. Dort werde geprüft, welche Strukturen in den einzelnen öffentlichen Gebäuden noch bestehen und wo mit erneuerbaren Energien gearbeitet werden kann. „Wir beraten im Gemeinderat darüber, dass beim Zulassen von Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen auch die Gemeinschaft davon profitieren soll. Also machen wir es nur möglich, wenn auch die Stadt daran beteiligt ist, um damit auch einen positiven Beitrag zu leisten.“ Die Entwicklung soll in Richtung Klimaautarkie gehen. Die Stadt könnte so bilanziell durch Wind-, Sonnen- und Wasserkraft auch einen positiven Beitrag im Bereich erneuerbare Energien leisten und noch andere versorgen.

Anja Wanck rät der Stadt, sich die Alternativen zu Plastik anzuschauen, die man wieder in den Kreislauf bringen und wiederverwerten kann. Künzelsau könne Modellstadt werden und beispielsweise Pfand auf Plastikverpackungen erheben, schlägt Professor Dr. Braungart vor. Die Reinhold-Würth-Hochschule und Lidl könnten dabei Partner werden und wichtige Beiträge leisten.

Hans-Peter Archner verabschiedet die Podiumsteilnehmerinnen, -teilnehmer, Zuschauerinnen und Zuschauer im Netz mit guten Wünschen für Künzelsau und den Strategieplan 2030. „Sehr erholsam war, mal zwei Stunden nicht über Corona zu reden.“

In voller Länge auf YouTube

Der Vortrag von Professor Dr. Braungart und die Podiumsdiskussion sind in voller Länge auf dem YouTube-Kanal der Stadt öffentlich abrufbar.

Weitere Informationen zur Strategie 2030 sind auf der städtischen Homepage zu finden.